Die Fliege II

Es ist Sommer. Sonntagnachmittag. Die Tage sind lang, die Nächte kurz. Das Mittagsschläfchen ist wohlverdient. Die Beine ausgestreckt, die Kissen zurechtgerückt. Ah. Augen zu. Herrlich. Durch die offene Terrassentür hörst du den Vögeln zu, die dir von ihren großen und kleinen Abenteuern berichten, während im Hintergrund leise der von dir in schweißtreibender, aber liebevoller Arbeit angelegte Bachlauf vor sich hin murmelt. Bald schon soll an dessen Ende ein kleiner Teich entstehen, in dem sich ein paar Goldfischlein tummeln, ein, zwei Seerosen in rosaprächtiger Anmut auf dem Wasser liegen, während eine Libelle lautlos über diesem Kleinod, diesem Paradies schwebt. Lautlos. Lautlos. Lautlos ein kleines Summen. Fast wärst du schon eingeschlafen gewesen. Entspannen. Ruhig. Nur eine Fliege. Eine Stubenfliege. Du interessierst dich nicht für sie, sie interessiert sich nicht für dich. So ist die Abmachung. Kurz davor die Augen aufzumachen, kneifst du sie zusammen. Einfach schlafen. Ganz entspannt. Das Summen kommt näher. Bricht ab. Etwas kitzelt dich an deinem linken Unterarm auf der Innenseite. Die Augen zu verscheuchst du sie. Du hast noch nicht einmal ausgeatmet sitzt sie wieder da, krabbelt langsam ein Stückchen weiter Richtung Armbeuge. Du drehst dich auf den Bauch. Vergräbst den Arm unter dir, den anderen auch. Nicht die angenehmste Schlafposition, aber eine Stubenfliege wird es nicht schaffen, dich um dein wohlverdientes Mittagsschläfchen zu bringen. Sie sitzt dir im Nacken. Das Krabbeln ihrer kleinen Beinchen kannst du nicht länger ignorieren. Was macht sie da eigentlich? Warum kann sie nicht einfach gegen das geschlossene Fenster fliegen bis sie tot ist? So machen es ihre Schwestern doch offensichtlich auch. Wo war sie eigentlich vorher? Auf einem Erdbeermarmeladenbrot wie in diesen Kinderzeichentricksendungen? Oder auf einem Stückchen Scheiße, das von einem Husky vor zwei Tagen in die städtischen Blumenbeete abgelegt wurde, ohne dass es von seinem Besitzer entfernt wurde? Oder einem halbzerfressenen Kadaver eines vor drei Tagen überfahrenen Eichhörnchens (hoffentlich ein schwarzes und kein kastanienbraunrotes!)? Du überlegst was Schlimmer ist, totes Tier oder Scheiße während sie auf deinen Nackenfalten Samba zu lernen scheint. Oder scheißt sie gerade alles voll? Wie an manchen Stellen in der mit weiß gestrichenem Holz verkleideten Küche. Was ist das eigentlich Fliegenscheiße? Scheiße von Scheiße. Du überlegst, ob Fliegen auch ihre eigene Scheiße essen, ihren eigenen Kadaver… Das „Wer-sich-zuerst-bewegt-verliert-Spiel“ macht keinen Spaß mehr, obwohl du gewonnen hast. Du machst die Augen auf. Siehst vor dir die baumwollene kaminrote Sofadecke. Da deine Arme bereits eingeschlafen sind, entschließt du dich, dich noch einmal im großen Stil zu bewegen. Setzt dich auf, breitest die Decke über dir aus. Achtest peinlich darauf, dass nichts, aber auch gar nichts unter der Decke hervorschaut. (Als müsste das Sofa frisch gestrichen werden, mit dir als Schablone.) Wer dich schlecht kennt, würde dich für gereizt halten. Nein, du bist nicht gereizt. Nur eine Fliege. Eine Stubenfliege. Also bitte, dann halt mit Wolldecke, auch wenn es gerade 36 Grad hat (und es wird noch heißer). Nur der Kopf guckt noch raus. Genauer gesagt dein Gesicht. Der Rest ist dir egal. Von dir aus kann sie sich in deinen Haaren häuslich einrichten, solange nur dein Mittagsschläfchen ungestört bleibt. Und so eine Fliege hat nun wahrlich viele Möglichkeiten sich zu verweilen. Wenn du eine Fliege wärst, würdest du dich zum Beispiel auf den Rand setzen, den das Glas Fanta vorher auf dem Couchtisch hinterlassen hat. Oder auf das weiße Buchcover, allein wegen der Schweinerei, die du als Fliege damit veranstalten könntest. Oder auf die lilagesprenkelte Blüte der Orchidee. Dein Gesicht erscheint dir auf einmal viel zu großflächig. Viel zu viel ungeschützte Haut. Sie sitzt auf deiner rechten Wange. Bewegt sich nicht. Du hingegen schon, kein Spiel mehr, hebst langsam deine rechte Hand. Und haust dir mit Wucht auf die Wange. Keine tote Fliege, stattdessen fühlst du dich als hättest du dich gerade geohrfeigt. Ok, du hast dich gerade geohrfeigt. Sie kichert. Zieht über dir ihre konfusen Kreise und kichert. Soll sie doch kichern, du bist schließlich das Wesen mit Gehirn und ziehst die Decke nun auch über deinen Kopf. Gar nicht so schlimm wie gedacht. Das geht gut, wenn man schläft, braucht man eh weniger Luft. Aber es ist schon verdammt stickig. Du überlegst, ob sich schon mal jemand im Schlaf aus Versehen erstickt hat, weil er die Decke zu weit hochgezogen hatte und dann eingeschlafen ist. Du drehst dich auf die Seite. Embryonalstellung. Funktioniert immer. Eine Schweißperle rinnt dir langsam über deinen Bauch. Es ist schon verdammt heiß. Ein bisschen frische Luft. Nur so viel, dass es für Mund und Nase reicht. Mit einem Ruck ziehst du dir die Decke wieder vom Gesicht. Kühle Luft streicht über deine verschwitzte Stirn. Wie im Sturzflug muss sich die Fliege in diesem Moment auf dich gestürzt haben und landet auf deinem rechten Mundwinkel. Krabbelt langsam über deine Oberlippe. Feind. Fressfeind. Frosch. Blitzartig lässt du deine Zunge aus deinem Mund herausschnellen. Fast hättest du deinen Mund wieder aufgemacht, als du verwundert feststellst, dass die Fliege nun in deinem Mund ist. Und du spürst – sie lebt noch. Mit der Zunge transportierst du sie zu deinen Backenzähnen hin, die sie zermalmen. Dann schluckst du sie hinunter. Du hast gewonnen. Nein, nicht gewonnen, gesiegt. Reißt die Decke weg von deinem verschwitzten Körper. Und kannst nun, endlich, endlich, schlafen. Bis – eine Fliege krabbelt über deine pochende Halsschlagader.

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